Die Arboritos Band 2: Die Suche nach dem Heilmittel

Leseprobe Kapitel 1
»Schließt die Augen und versucht, mit eurem Nagekäfer Kontakt aufzunehmen.«
Fabia runzelte die Stirn. Mit einem letzten Blick in die Facettenaugen des Käfers befolgte sie Frau Mückes Auftrag. Um sich herum nahm sie das Rascheln der Kleider und das Kichern ihrer Klassenkameraden wahr. Stuhlbeine schrammten über den Boden.
Sie ermahnte sich zur Achtsamkeit, auch wenn es ihr schwerfiel. Immerhin übten sie das jetzt schon eine Stunde lang. Den meisten war es bereits gelungen, mit ihrem Käfer zu kommunizieren. Nur ihr nicht, war ja klar.
Konzentration! Sie zuckte mit den Fühlern, spürte ihr Umfeld und fand den Käfer. So weit, so gut. Sie stupste ihn sanft mental an. Er reagierte nicht, doch sie fühlte, dass er Hunger hatte und ansonsten nicht viel im Sinn. Seine Aufmerksamkeit galt dem trockenen Holzstück auf dem Tisch, an dem er genüsslich kaute.
Ein weiteres Kichern ertönte, gefolgt von einem Flüstern.
Fabia zwang sich dazu, die Augen geschlossen zu halten, doch fiel es ihr immer schwerer. Eindeutig Kaja, die dort tuschelte. Bestimmt lästerte sie wieder. Fabia ballte die Hände zu Fäusten und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Käfer. Nach einem weiteren Anstupser unterbrach der sein Mittagessen – hatte er sie bemerkt?
»Wie sie guckt, als hätte sie in einen Sauerampfer gebissen.«
Sie riss die Augen auf und wandte sich um. Kaja schaute sie feixend an, strich sich die unverschämt langen, blonden Haare in den Nacken. Ihre Freundinnen gackerten.
Fabia wollte dagegenhalten, als Frau Mücke zu ihr trat.
»Alles in Ordnung? Kommst du gut voran?«
Sie ignorierte Kajas Gekicher und sah zu ihrer Klassenlehrerin auf. Zeitgleich verspürte sie tatsächlich einen sauren Geschmack nach Ampfer im Mund. Lügen hasste sie, petzen jedoch auch. »Alles gut.«
Einfach nicht beachten, ermahnte sie sich. Sie beugte sich über den Käfer und streichelte seinen behaarten Körper. Ein Seufzen entwich ihr. »Irgendwann schaff ich das, du wirst schon sehen.«
Als Antwort biss er herzhaft ins Holz und ließ sie links liegen. Sie packte schlecht gelaunt die Schulsachen zusammen. Heute würde sie es nicht mehr hinbekommen, da konnte sie es auch sein lassen. Es verblieben eh nur noch wenige Minuten bis zum Ende der Stunde.
Frau Mücke zuckte mit den Fühlern. Sogleich krabbelten die Nagekäfer in den hinteren Teil des Klassenraums, um dort noch mehr Futter vorzufinden.
Während sie sich darauf stürzten, als hätten sie nicht gerade erst eine Stunde lang vor sich hin gemümmelt, wandte sich Frau Mücke an die Klasse. »So, ihr Lieben, das war doch eine gelungene letzte Stunde für einen Freitag. Übt fleißig weiter. Auf dem Heimweg könnt ihr mit den Tieren des Krabbelzugs Kontakt aufnehmen.«
Die Schüler scharrten mit den Füßen. Fabia rutschte auf dem Stuhl nach vorn.
»Die Sommergoldhähnchen machen sich bald auf den Weg in den Süden, vielleicht trefft ihr eines, dann könnt ihr ihm einen guten Flug wünschen. Und jetzt raus mit euch!«
Stühlerücken und Geplapper übertönten beinah ihre letzten Worte.
Fabia wippte auf den Fußballen, während sie auf Kion und Tamo wartete, die hinten im Raum in ein Gespräch vertieft waren.
Leider hieß das auch, dass Kaja in aller Seelenruhe weiter über sie reden konnte. Natürlich gab sie sich keine Mühe, dies leise zu tun. »Schon bitter, wenn man es nicht schafft, einen doofen Käfer anzu-sprechen.«
Ihre Freundinnen gackerten.
Fabia verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich mit betont gelangweilter Miene Kaja zu. »Dafür traue ich mich, mit Arbolden zu reden, die ich nett finde.«
Prompt lief Kaja rot an, ihr Blick huschte nach hinten zu den Jungs. Tamos hellblonde Haare standen wild vom Kopf ab, er sah aus wie frisch aus dem Bett gekrochen. So, wie er mit den Armen herumfuchtelte, erzählte er eine seiner absurden Geschichten. Fabias Blick fiel auf ihren Zwillingsbruder und sie lächelte. Kion lauschte gebannt Tamos Worten, auf seinem Gesicht eine kindliche Neugier, die so gar nicht zu seinen dreizehn Jahren passen wollte.
In dem Moment traten die beiden auf die Gruppe zu, Tamo wie immer mit breitem Grinsen. »Na, habt ihr fleißig mit eurem Käferchen geplaudert?«
Zu Fabias Vergnügen konnte Kaja daraufhin bloß nicken. Ihr Kopf hatte die Farbe eines Fliegenpilzes angenommen, es fehlten nur noch die weißen Punkte.
»Dann bis morgen.« Tamo hob die Hand und wandte sich an Fabia. »Bereit?«
Auch sie grinste. »Für dich immer.«
Unter Kions verständnislosen Blick strahlte sie Kaja an. »Und dir einen tollen Tag!«
Deren Gesicht bekam doch noch Flecken. Sie sah aus, als ob sie jeden Augenblick zu schreien oder heulen anfangen würde. Zufrieden folgte Fabia den Jungs in den Flur hinaus, den ein Leuchtpilz erhellte.
»Musste das sein?«, fragte Kion sie so leise, dass Tamo nichts mitbekam.
Sie flitschte dem Helmling mit dem Finger gegen den Hut, woraufhin er flackerte. »Aber so was von.«
»Du bist in letzter Zeit ganz schön grantig, nicht nur zu Kaja. Auch zu allen anderen. Ist dir das eigentlich aufgefallen?«
Unfähig, es zurückzuhalten, sagte sie härter als beabsichtigt: »Ist halt alles Ameisendreck. Kaja ist ‘ne blöde Gans, die ersten Klassenarbeiten habe ich in den Sand gesetzt und du hängst nur noch mit Tamo rum.« Ohne auf eine Antwort zu warten, drängte sie sich am Leuchtpilz vorbei und eilte den Gang entlang.
Sie verließen den Baum, kühle Luft schlug ihnen entgegen. Im aufkommenden Herbstwind schwankte der Wohnbaum genau wie Fabias Gefühle. Ihr Bruder hatte recht. Kajas erneute Sticheleien und sein Kommentar zeigten, wie einsam sie war. Seit Wochen fühlte sie sich wie ein welkes Stück Salat, das nicht mal gut genug für eine Nacktschnecke war.
Natürlich hatte es eine Weile gedauert, bis Papas Ruf wiederhergestellt worden war. So etwas geschah nicht von heute auf morgen. Andauernd betonte er, wie enorm ihm Kion und Fabia geholfen hatten. Klar, sie hatten die Diebe gefasst, die seine Forschungspapiere gestohlen hatten. Vorher waren sie die Außenseiter der Klasse gewesen.
Was hatte sich seitdem geändert? Tamo war ihr Freund, klar. Und Kion wurde mittlerweile sogar auf Geburtstage eingeladen. Aber sie selbst?
Sie seufzte. Oftmals kam sie sich vor wie das fünfte Rad am Wagen. In der Klasse gab es kein Mädchen, das sich mit ihr treffen wollte. Alle hatten schon eine beste Freundin.
Darüber hinaus wollte sich keine mit Kaja anlegen.
Mit schweren Schritten erklomm sie die Spindeltreppe hinauf zum Krabbelzug. Ihr Blick wanderte in die Ferne. Von hier oben konnte sie den Erdboden vage erkennen. Die Bäume hatten ihre herbstlich getönten Blätter zu großen Teilen abgeworfen. Trostlos segelte ein Buchenblatt an ihr vorbei. Die Baumkrone weit über ihr wirkte verletzt und traurig ohne ihr schützendes Dach.
»Hoffentlich geht es Papa besser.«
Kions Worte rissen sie aus den Gedanken. Sogleich traf sie ein Schwall Schuldgefühle, sie taumelte. Wie hatte sie das verdrängen können?
Ehe sie etwas sagen konnte, wandte sich Tamo ihnen zu. »Wissen die Ärzte inzwischen, was er hat?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie untersuchen jetzt, ob er vielleicht was Falsches gegessen hat.« Auch wenn sie daran zweifelte. Sie hatten dasselbe gegessen, oder? Papa ging es seit einer Woche schlecht und niemand wusste, was los war. Zum Blattläuse melken!
***
Zu Hause wartete Mama. Sie wirkte bedrückt. »Wir müssen etwas besprechen.«
Fabia schluckte und wechselte einen Blick mit ihrem Bruder.
Im Wohnzimmer herrschte Stille, von nebenan erklang ein krächzendes Husten. Es tat Fabia in der Seele weh, sie hoffte auf gute Neuigkeiten.
Mama setzte sich in den Sessel und strich eine Strähne aus ihrer Stirn. »Papa geht es schlechter. Er scheint etwas Giftiges gegessen zu haben. Leider kennen sich unsere Ärzte damit nicht aus.«
»Gift?« Kions Stimme zitterte.
»Sie haben eine Blutprobe nach Käferstein geschickt. Dort wohnt eine berühmte Biologin, die viel über Gifte weiß. Wir hoffen, sie kann uns sagen, wie Papa gesund wird.«
Jeder Satz legte sich wie Blei auf Fabias Körper, sie konnte kaum atmen. Immer wieder huschten die Wörter wie Ameisen durch ihren Kopf.
»Womit hat er sich denn vergiftet?« Kion rutschte auf dem Sofa hin und her.
Mama zuckte mit den Fühlern. »Das wissen wir erst, wenn wir das Ergebnis der Untersuchung haben.« Sie erhob sich vom Sessel, drückte ihren Rücken durch. »Ich muss wieder arbeiten. Da Papa ausfällt, schiebe ich ein paar Extraschichten.«
Die Eingangstür fiel ins Schloss und hinterließ eine dröhnende Leere. Auch aus dem Schlafzimmer drang kein Laut. Fabia hielt nichts mehr auf dem Sofa. Sie sprang auf, eilte nach nebenan und trat ans Bett. Hinter sich spürte sie Kion. Im dämmrigen Licht des Leuchtpilzes versuchte sie, etwas zu erkennen.
Papa lag mit geschlossenen Augen unter der Tagesdecke. Die stickige Luft legte sich wie eine Pollenschicht auf sie.
»Papa?«
Er blinzelte. »Schultag rum? Was gab es denn Spannendes?«
Sie sah, wie anstrengend das Sprechen für ihn war. Er atmete schwer und bewegte sich sonst nicht.
»Wir lernen jetzt, mit Nagekäfern zu kommunizieren. Ist echt schwierig.«
Ein Lächeln breitete sich auf seinem müden Gesicht aus. »Bald weißt du sicher, wie der Hase läuft. Ich ha–« Ein Hustenkrampf packte ihn. Er krümmte sich, drehte den Kopf zur Seite.
Sie biss sich auf die Unterlippe, ihre Augen brannten. »Papa?«, flüsterte sie, nachdem er sich beruhigt hatte.
»Ich sollte noch ein bisschen schlafen. Seid so lieb und gönnt mir etwas Ruhe.«
Sie stolperte aus dem Schlafzimmer und ließ sich auf ihr eigenes Bett fallen. Tränen liefen über ihr Gesicht, sie schniefte.
Kion nahm sie in den Arm, sie klammerte sich an ihn. »Er muss wieder gesund werden.« Sie spürte ihn nicken.
Eine Weile saß sie da, bis die Tränen getrocknet waren. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals so große Sorgen um ein Familienmitglied gehabt zu haben.
Traurig aß sie mit Kion ein Brot und ging früh ins Bett – ein schmerzhaftes Pochen hinter der Stirn plagte sie. Doch dauerte es ewig, bis in ihrem Kopf kein Chaos mehr herrschte und sie einschlafen konnte. Ihr letzter Gedanke galt Papa und dass es ihm am nächsten Morgen einfach besser gehen musste.
***
Das war nicht der Fall. Das gesamte Wochenende über nagte die Angst an ihr, nachts konnte sie kaum schlafen. Als sie sich am Sonntagmorgen zum Frühstück schleppte, saß Mama am Tisch – in ihrer zitternden Hand ein Brief.
»Mama?« Die Angst griff nach Fabias Herz und drückte erbarmungslos zu. Als Mama nicht antwortete, brannten ihre Augen erneut.
Kion nahm den Brief und überflog ihn. »Die Biologin macht sich sofort auf den Weg, ein Heilmittel zu besorgen. Wenn Papa es nicht bald bekommt, geht das Gift auf die Organe über und …« Er sprach nicht weiter, sondern nahm Mama, über deren Wangen Tränen rannen, in den Arm.
Auch wenn Fabia von Fühler bis Fuß zitterte, schnappte sie sich den Brief. Sie musste ihn mehrmals lesen, um wirklich zu verstehen, was dort stand. Doch so oft sie die Worte las, eines war klar: Sie hatte Papa vergiftet.
Ich freu mich auf Kaja
Dem Satz sollen wir aber auf Instaschreiben, oder hier auch ?
Die Textstelle liest sich prima und ich freue mich schon auf das Buch. Du hast uns ja mit einem schönen Cliffhänger allein gelassen. Wie hat sie ihren Vater vergiftet und warum? Boa, und auf die Antwort muss ich noch soo lange warten.