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Kurzgeschichte:

Die Reise zum Mittelpunkt der Todeslichtung.

Die Todeslichtung. So lang und breit, wie eine Buche in den Himmel ragte. Fortis Fichtennadel schirmte seine Augen gegen die grelle Sonne ab, die den Weg stetig über die Kronen des umliegenden Waldes fand. Überall totes Holz, abgestorbene Büsche und die skelettartigen Gerippe umgekippter Bäume.
Er lehnte sich müde auf eine Eichel und ließ seinen Blick wandern. Etwa in der Mitte der Lichtung entdeckte er sein Ziel: eine Birke, die dürr und tot gen Himmel ragte. Es grenzte an ein Wunder, dass sie noch stand und nicht längst, wie alle anderen Bäume hier, umgekippt und überwuchert worden war.
Dorthin führte die Schatzkarte Fortis. Seufzend machte er sich an den Abstieg. Vorbei an einem hoch aufragenden Tannenzapfen und durch ein Dickicht aus Grashalmen.
Er wusste nicht, wie lange er unterwegs war oder wie viele Zweige und Laubberge er erklommen hatte und wieder hinab geklettert war. Als die Sonne unterging, hatte er das Gefühl, wenigstens einen guten Teil des Weges hinter sich gebracht zu haben. Auch die Nacht blieb ruhig. Zu ruhig. Er hätte sich denken können, dass es nicht so einfach sein konnte.
Das Erste, was ihm am nächsten Morgen auffiel, waren die Regenwolken. Mit Schrecken blickte er auf die dunklen Gebilde, die sich am Horizont auftürmten. Damit hatte er nicht gerechnet und ihm war bewusst, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Sobald ein Regenguss auf die Erde prasselte, würde er die Lichtung nurmehr schwimmend überqueren können. Wenn ihn die Fluten nicht wegrissen, könnte es sein, dass er von einem besonders voluminösen Regentropfen erschlagen werden würde und das Risiko wollte er nicht eingehen. Er musste sich beeilen!
Als er eine freie Ebene überquerte und einem Löwenzahn auswich, der sich über ihm gen Sonne streckte, bemerkte er den Schatten oben am Himmel. Ein Baumfalke!
»Verfluchte Algengrütze!«, schimpfte Fortis.
Der Greifvogel bereitete sich auf seinen Angriff vor.
Hektisch blickte Fortis umher. Da! Etwas blitzte in der Sonne auf. Ein ihm unbekanntes, zylinderförmiges Objekt lag keine zwei Kieselwürfe von ihm entfernt. Es sah stabil aus und besaß eine Öffnung am vorderen Ende. Fortis hatte keine andere Wahl. Ein letzter Blick zum Falken hinauf, der gerade in den Sturzflug überging, und er rannte los. Immer wieder schlug er Haken und wechselte die Richtung. In der Hoffnung, der Falke würde seinen Weg neu kalibrieren müssen und an Geschwindigkeit verlieren.
Die Flucht gelang ihm, wenn auch knapp. Als er zu einem Hechtsprung ansetzte, um sich in das Loch zu retten, spürte er bereits den Luftzug. Er kam auf dem geriffelten Boden auf, rollte sich ab und wurde von der hinteren Wand abgebremst. Ein Schrei ertönte. Erregt, enttäuscht. Fortis rappelte sich hoch und spähte zum Eingang.
Die rot gefiederten Beine des Falken landete just in dem Augenblick direkt davor und in der Höhle wurde es dunkel. Gelbe Augen glommen auf und ein spitzer Schnabel versuchte, Fortis zu erreichen. Doch glücklicherweise erwies sich sein Versteck als tief genug. Der Falke gab mit einem frustrierten Klackern auf. Er zog sich zurück, warf Fortis einen bitterbösen Blick zu und erhob sich in die Luft.
Aufatmend kroch Fortis in Richtung Eingang und spähte vorsichtig hinaus, doch der Falke schwebte wieder am Himmel. Erleichtert plumpste er auf seinen Allerwertesten und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Noch einmal Glück gehabt.
»Ahh!«
Erschrocken sprang er auf die Füße und suchte die Quelle des verzweifelten Schreis.
Der Falke stürzte nach unten. Eine Maus raste im Zickzack umher und versuchte, dem Vogel zu entkommen. Sie hinkte! So war sie zu langsam! Blitzschnell zog Fortis aus der Tasche eine Scherbe, die er stets bei sich trug. Er hielt sie so, dass die Sonnenstrahlen hinein fielen und drehte sie dann vor und zurück. Endlich! Die Reflexion des Sonnenstrahls fiel genau auf den herabstürzenden Jäger.
Der Falke kreischte geblendet auf und blieb mitten in der Luft flügelschlagend stehen.
»Hierher!«, rief Fortis und hielt Scherbe in Position.
Sogleich änderte das Nagetier die Richtung und stürzte kurz darauf keuchend neben Fortis ins Versteck. Gerettet! Das erkannte auch der geblendete Falke, als Fortis die Scherbe sinken ließ. Mit einem wütenden Schrei zog sich der Jäger zurück.
Fortis näherte sich der Maus, die weiterhin schwer atmend im hinteren Teil des Verstecks lag. Sie lag auf der Seite und Fortis erkannte sogleich den Dorn in ihrer linken Pfote. Kein Wunder, dass sie kaum laufen konnte. Er trat an sie heran und klopfte ihr sanft auf die Schulter. Höher kam er selbst auf Zehenspitzen nicht. »Beruhig dich. Ich helfe dir.«
»Ich … danke … dir«, sagte die Maus schnaufend.
»Keine Ursache. Achtung, jetzt tut es einmal kurz weh und … geschafft!«
Die Maus bäumte sich kurz auf, doch es war vollbracht. Der Dorn ließ sich mit einem Ruck aus ihrem Fleisch entfernen und Fortis warf ihn von sich. Aus seinem Rucksack holte er einen aufgerollten Grashalm und wickelte ihn stützend um den Mäusefuß. Als er fertig war, hatte sich die Maus beruhigt und setzte den Fuß probeweise auf den Boden.
»Wunderbar, ich kann endlich wieder laufen! Danke!« Sie strahlte ihn an und wuselte hinaus. Nicht, ohne einen prüfenden Blick in den Himmel zu werfen.
Nach dieser Aufregung legte Fortis den restlichen Weg problemlos zurück. Am Abend erreichte er den Mittelpunkt der Todeslichtung. Kahl und blass ragte die Birke über ihm auf.
Er strahlte, sah er sich doch am Ziel seiner langen Reise. Er schlich vorsichtig über den Erdboden und wich einigen Asseln aus, die geschäftig umher krabbelten und sich nicht für ihn interessierten. Am Fuße des Baumes kletterte er eine Wurzel empor und erreichte eine Plattform, von der aus er weit blicken konnte. Da! Ein Loch, direkt vor ihm in der Rinde. Dort musste es sein!
Auf Zehenspitzen lief er auf den Eingang zu und wähnte sich bereits im Inneren, als ihn das Grauen packte. Aus dem Eingang der Höhle krochen erst zwei, dann vier und letztendlich acht lange, haarige Beine, so dick wie sein Oberschenkel und viermal so lang wie er selbst.
Erstarrt blickte er in die Hauptaugen der Riesenwinkelspinne, die ihn gierig musterte. Sie setzte ein Bein nach dem anderen und kam immer näher.
Stolpernd wich er zurück. Käferdreck! Mit den großen Verwandten der Waldwinkelspinne hatte er nicht gerechnet. Sein Herz raste und er wischte sich die feuchten Hände an seiner Hose ab, während er zurückwich.
»Wen haben wir denn da?«, fragte die Spinne mit böse glitzernden Augen und klackernden Kieferklauen.
»Niemanden.« Fortis bemerkte, wie hoch seine Stimme klang. Fieberhaft überlegte er, was zu tun war.
Die Spinne kam näher. Er wich zurück. Mit einem Mal war da nichts mehr unter seinem Fuß. Kurz wähnte er sich in Schwerelosigkeit, dann fiel er. Die Spinne verschwand aus seinem Blickfeld, stattdessen sah er den dunkler werdenden Himmel. Der Wind rauschte vorbei. Sein Sturz endete abrupt und weich. Doch gab es keinen Grund aufzuatmen. Als Fortis sich aufrappeln wollte, konnte er sich nicht bewegen. Er war im Netz der Spinne gelandet!
Ameisenkacke! Was nun? Die Spinne kletterte über den Rand der Wurzel und kam langsam auf ihn zu. Sie hatte keine Eile, wozu auch? Ihr Plan, Fortis ins Netz zu locken, war gelungen und sie bräuchte ihn einfach nur noch anzuknabbern.
Als sie so nah an ihn herangekrochen war, dass er ihren Atem hören und riechen konnte, schloss er die Augen. Sein Ende hatte er sich anders vorgestellt. Er biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu schreien.
Mit einem Mal wurde er heftig durchgeschüttelt. Er riss die Augen auf. Die Spinne war verschwunden. Im Augenwinkel erkannte er ein Knäuel neben sich. Zwei Gestalten, die sich dort bissen und kratzten und stachen. Dann herrschte Stille. Fortis fragte sich grauenerfüllt, was geschehen war. Welches Ungeheuer war nun aufgetaucht?
Ein Schatten fiel auf ihn und er öffnete vor Staunen den Mund. Es war die Maus!
»Wie du mir, so ich dir!«, sagte sie und befreite ihn aus seiner misslichen Lage.
Die Spinne lag abseits auf dem Rücken, die acht Beine angewinkelt. Sie rührte sich nicht.
»Danke!« Mehr brachte Fortis nicht hervor.
»Keine Ursache. Du suchst doch bestimmt den Menschenschatz im Baum? Den hast du dir auch verdient. Hol ihn dir und dann bring ich dich wieder zurück in den Wald.«
Froh befolgte Fortis den Rat der Maus und betrat die Baumhöhle. Tatsächlich. Ein riesiger Ring lag dort aus einem glatten Material, das die letzten Sonnenstrahlen des Tages einfing. Doch wie sollte Fortis ihn mitnehmen? So viel Platz war in seinem Rucksack nicht für einen Ring, durch den er locker hätte durchkrabbeln können. Er entdeckte einen Stein, der im Ring steckte. Ein grüner, herrlich schimmernder Stein.
Mit etwas Mühe brach Fortis ihn aus seiner Halterung und wog ihn in den Händen. Dieser riesige Stein war locker tausend Blattläuse wert! Glücklich steckte Fortis ihn ein und verließ die Höhle. Die Maus wartete auf ihn.
»Fertig?«
Er bejahte und stieg auf den Rücken des Nagetiers. Gemeinsam sprangen sie in den Sonnenuntergang.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Fortis Fichtennadel gefällt mir sehr gut. Er darf sich gerne der Truppe anschließen, oder immer mal wieder zu Hilfe eilen. Er ist neugierig, schlau und hilfsbereit, passt also gut dazu, natürlich nur wenn er will, denn er scheint mir so einen kleinen Hang zum Querschläger zu haben, oder?
    Sein Abenteuer ist spannend beschrieben. Todesmutig muss er sich auf die Lichtung wagen, wo alles niedergewalzt ist, bis auf die, in der Mitte stehende Birke und da soll auch der Schatz sein laut seiner Schatzkarte. Die Widersacher in Form von Baumfalken und Riesenwinkelspinne sind gut ausgesucht, denn mit besonders interessierten Kindern kann man nachschlagen, wie sie aussehen und auch die kleine Maus ist ein guter Begleiter für Fortis. Eine Hand wäscht die andere, so profitieren beide davon.
    Ich mag die Geschichte sehr.

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